21.11.05

Vermückt oder verfloht?


Janina glaubt, es seien Flöhe. Ich glaube, es sind nur Mückenstiche. Zumindest über den Sonnenbrand sind wir uns einig. Naja, das kommt halt davon, wenn man das Wochenende auf einer Fluss-Lodge im Tigre-Delta verbringt.

18.11.05

"In Afrika hatten wir dichtere Fenster"

Brunch mit den Maefs, den "mitausreisenden Ehefrauen", draußen in den nördlichen Vororten, am Rio de la Plata. Autos mit Diplomatenkennzeichen auf der Straße, üppige Bürgersteige, südseeblaue Pools hinter hohen Hecken. Es kommt Leberwurst auf den Tisch, dazu Laugenbrötchen und Berliner Ballen, Tiroler Brot. Man stöhnt über die deutsche Schule, so schwer und so lang die Schultage, die Abiprüfungen stehen bevor. Unser Sohn, klagt eine, hat sich sehr argentinisiert - und zwar nicht nur zum Vorteil. Zehn Jahre hat man ihm Benimm beigebracht - nach anderthalb Jahren Buenos Aires keine Spur mehr davon.

Die einen vermissen Ekuador; die anderen schwärmen von ihrem Pool in Guinea; dass es am Prenzlauer Berg auch ganz nett sei, das bleibt eine Minderheitsmeinung.

Wisst Ihr, fragt eine, wo man hier anständige Weihnachtsbäume bekommt?
Machen hier eigentlich Alle das Sushi mit Philadelphia-Käse?
Mist, sagt eine Rheinländerin, ich hab zum ersten Mal den Karnevalsbeginn verpasst.
Das mit den Fenstern, sagt der einzige männliche Kollege, ist ein Problem hier. Kriegen die Argentinier nicht hin. Da hatten wir ja in Afrika dichtere Fenster.

15.11.05

Pato


Früher hat man es mit einer Gans gespielt, jetzt nur noch mit einem Ball: drei auf drei Pferden gegen drei andere Männer auf drei anderen Pferden, plus zwei Tore, plus ein Schiedsrichter - plus eben ein Ball.
Hier gesehen in Mataderos, auf dem sonntäglichen Gauchomarkt im Westen von Buenos Aires.

3.11.05

Zahlbar in sechs Raten, ohne Zinsen

In der Apotheke, im Eisladen, im Supermarkt: In allen Geschäften stehen die Männer von den Sicherheitsfirmen am Eingang.
Wenn Du am Bankautomaten eine 100-Peso-Note ziehst (ca 30 EUR), wirst Du sie kaum wieder los: So viel Wechselgeld hat keiner, außerdem könnte der Schein ja gefälscht sein. Selbst die 20-Peso-Note halten sie in der Apotheke gegen das Licht, auch die eine potenzielle Blüte.
In der U-Bahn verkaufen sie Heiligenbildchen, Kämme, Kaugummis und vieles anderes, was keiner braucht. An den Zugstationen stehen Kinder und warten drauf, dass ihnen die Passagiere ausgelesene Zeitungen überlassen - zum Weiterverkauf an den Papierhändler.
Ob ich ein Klavier kaufe oder zwei Flaschen Milch: Alles lässt sich abstottern, in "sechs Raten, ohne Zinsen", wie sie alle werben.
"Riche comme un argentin", reich wie ein Argentinier - das war mal ein stehender Begriff in Europa. Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Rinderbarone aus der Pampa mit eigenen Kühen an Bord in die Sommerfrische nach Europa reisten, damit sie die eigene Milch trinken konnten. Als nur die besten Pariser Architekten gut genug waren für die Anlage der grossen Avenidas in Buenos Aires, für den Bau der Metrostationen. Als sich, wer durch die Pampa reiste, so viele Rinder schlachten konnte, wie er wollte - so lang er nur das Fell zurückließ und über den Zaun hängte. Mit seinen Bodenschätzen, seinen unendlichen Grasweiden könnte Argentinien ein zweites Kanada sein, ein Australien. Stattdessen ist man gefälschten 20-Peso-Scheinen hinterher.
Erst die Privatisierungen von Staatsfirmen in den neunzigern, was Hunderttausenden das Einkommen gekostet hat. Dann hat man 2001 die Konten beschlagnahmt und den Peso abgewertet. Seitdem lebt die Hälfte der Bevoelkerung in Armut. Und von den dramatischen Wachstumszahlen - 8,5 Prozent wird gerade für das letzte Quartal im Vergleich zu 2004 gemeldet - profitieren nur wenige.
Deshalb die Wachmänner. Deshalb die Ratenzahlung. Deshalb die Skepsis gegenüber dem 20-Pesos-Schein.

Ist für Montag noch ein Bügeleisen frei?

Der Sushi-Lieferant neulich hatte Schwierigkeiten, einen gewissen "Senor Chile" zu finden. Im Fitness-Center heiße ich "Cirsten Tiehl" oder so ähnlich. Kurzum: Das mit dem Buchstabieren auf spanisch klappt noch nicht so gut. Aber ich arbeite dran.

Drei Wochen lang hatte ich Einzelunterricht bei Fernanda und Inda, abwechselnd 4 Stunden täglich, fünf Mal die Woche - kostet hier 27 Pesos pro Stunde, das sind zur Zeit gute 8 Euro... Diese Woche habe ich eine Gruppensprachkurs begonnen, immerhin schon auf Niveau "Avanzado". Zwei Japanerinnen, die jedes Wort wissen und jede Konstruktion können - aber ohne Androhung von Zwangsmaßnahmen kein Wort über die Lippen bringen. Zwei Franzosen, die die ganze Zeit französisch mit spanischen Vokabeln sprechen. Und eine Engländerin, die Frau des Verteidigungsattachées an der britischen Botschaft, die seit 2 Jahren nur Golf spielt und spanisch lernt, alles kann und versteht.

"Trrrren", "torro", "trrrriste" - mein derzeitiger Hauptfeind ist das Zungen-R. Wäre bayrisch mein Mutteridiom, hätte ich damit keine Probleme, so muss ichs mir mühsam vor dem Spiegel beibringen.

Und dann diese vielen Worte: Neulich rief ich auf dem Tennisplatz an und wollte wissen, ob noch ein "Bügeleisen" frei wäre. Aber man war sehr gütig zu mir und hat mir eines für Montag reserviert. Denn soooo weit weg ist "plancha" (Bügeleisen) von "Platz" (cancha) nun auch wieder nicht. Wenn er Geld winken sieht, dann versteht er einen nämlich schon, der Argentinier...

Nachtrag Chicago

CHICAGO
Stadt der Giganten

Die Zehn-Millionen-Metropole ist ein Mekka für Architektur-Fans und solche, die es nie werden wollten.

CHRISTIAN THIELE



Der große Brand von 1871 schuf Platz für den Bau der imposanten Häuserschluchten. Foto: Christian Thiele
An genau so einem Tag will man downtown sein: Die Herbstsonne sendet milde letzte Strahlen über die Stadt, an der Crown Fountain watscheln Kinder durch das von zwei Glasblöcken herabrieselnde Wasser und kreischen vor Vergnügen; dahinter blitzt wie ein gigantischer Haufen zusammengeknülltes Bonbonpapier Frank Gehrys silbrige Konzerthalle, darüber thronen stolz die Wolkenkratzer. Auf dem Lake Michigan, weit und blau wie der Ozean, tausend weiße Segelbootsegel, dazwischen tanzt in Myriaden Punkten die Sonne.

Zwei Straßen weiter, an der Lakefront, hecheln Jogger, Inline-Skater und Radler um die Wette, ein paar Gehminuten weiter nördlich, auf der Michigan Avenue, shoppen sich Touristen die Kreditkarten leer. Einen Block südlich winden sich zwei Anwälte die Krawatten vom Hals und gönnen sich zum Feierabend eine Architekturführung. Typisch Chicago: The Great American City, die großartige, amerikanische Stadt. Mit seinen Hunderten von Wolkenkratzern ist Chicago das Mekka der Fans moderner Baukunst. Aber die Stadt ist mehr als schöne Fassade. Sie hält die Versprechen, die ihre Architektur macht: Arbeit und Erholung, Kultur und Kommerz begegnen, befruchten und bedingen sich hier auf engstem Raum. Ein fast europäisches Erlebnis von Stadt. Innerhalb von geschätzten 20 Gehminuten lassen sich: Möwen füttern, Gemälde aus dem kolonialen Amerika besichtigen, Schweinebauchhälften am Board of Trade verkaufen, Shoppen, Speisen, Schlafen sowieso.

Wolkenkratzer aus der Asche

Wer Chicago verstehen will, muss drei Namen kennen: O'Leary, van der Rohe, Daley. Ein Bauer, ein Architekt, ein Bürgermeister. Im Kuhstall der O'Learys im Südwesten Chicagos bricht am Samstag, 8.Oktober 1871, gegen neun Uhr abends ein Feuer aus. Die Feuerwehr wird spät alarmiert, der Wind bläst den Brand nach Nordost, ins Herz der Stadt. Um Mitternacht züngeln die Flammen über die Ufer des Chicago River, erst 48 Stunden später kommt das Feuer zur Ruhe – wo Stadt war, ist jetzt Wüste. 190 Kilometer Bürgersteig, 2000 Lampenpfosten, 17500 Gebäude sind zerstört, Hunderte Menschen sterben, ein Drittel der Einwohner wird obdachlos. Napoleons Brandschatzungen in Moskau 1812, sagen die Zeitungen damals, waren nichts dagegen.

Aber die Stadt erhebt sich. Der Erie-kanal und die Eisenbahn haben aus dem einstigen Fellhandelsposten den größten Verkehrsknotenpunkt im Land gemacht, da bleibt für Agonie keine Zeit. Also werden die Ärmel hochgekrempelt, wird eine neue Stadt aufgebaut. Immer schön im Schachbrettmuster, im Osten der See, im Westen die Prärie. Kunstfertige Architekten gibt es kaum, also müssen die Ingenieure ran. Im Bürgerkrieg haben sie Eisenbahnbrücken gebaut, jetzt bauen sie Häuser. Große Häuser. Ziehen die Stahlskelette, die sie von der Bahn kennen, statt in die Horizontale in die Vertikale – und erfinden den Wolkenkratzer.

„Ja, was ist eigentlich ein Wolkenkratzer?“, fragt Joan in das Rattern der S-Bahn hinein, während ihre Begleiter sich am Fuße des Home Insurance Building die Hälse aus den Schultern recken. Joan gibt gleich selbst die Antwort: „Ein hohes Gebäude mit Fahrstuhl und elektrischem Licht!“ Denn erst Aufzug und Kunstbeleuchtung machten es möglich, dass Häuser über zehn Stockwerke hinauswachsen konnten.

Joan ist Dozentin an der ChicagoArchitecture Foundation und führt durch Downtown. Hier das Home Insurance Building, da das Prudential Building, und dort hinten baut gerade Donald Trump. Es bleiben ein steifer Nacken, jede Menge verknipster Film und etliche Bröckchen bizarren Halbwissens über Fensterrahmen, Fußbodenstrukturen und Klimaanlagentechnik: die üblichen Ergebnisse einer Stadtführung in Chicago.

Jeder Chicago-Besucher fängt schnell an, sich Lieblingsgebäude zu suchen. Nur wechseln die ständig, am besten man legt sich Listen an: Top 3, Top 5, Top 10. Gestern war das Carbon & Carbide Building der Favorit: Mit dem grünen Korpus und der goldenen Kuppel erinnert es an eine Champagnerflasche. Heute ist es „Big John“, der mächtige, muskulöse John Hancock Tower. Oder nein, ist es nicht doch das wunderbar schwebende Postbüro von Mies van der Rohe? „Miiiswääänderouhhh“: Wenn Joan von diesem Mann spricht, meint sie Ludwig Mies van der Rohe, den großen Bauhaus-Architekten. Über seinen Namen stolpert man in Chicago an jeder zweiten Ecke. Nachdem er 1933 vor den Nazis über den Atlantik floh, ließ er sich in der Stadt am Lake Michigan nieder – und schenkte ihr mit der Konstruktion klarer, ornamentloser Stahl-Glas-Bauten die Perlen des „International Style“.

Sicher, im Berlin der neunziger Jahre waren Baustellenführungen hip, traf man auf Richtfesten Frauen mit eleganten Abendkleidern am Leib und klobigen Maurerstiefeln an den Füßen. Die Stadt hatte eine Affäre mit der Architektur, innig und heftig, doch schnell wieder passé. Chicago hingegen führt eine lebendige Langzeitbeziehung mit der Baukunst. Die abgeschlossene Sanierung eines Van-der-Rohe-Baues begeht man hier mit einem Galaabend; der preisgekrönte Architekturkritiker der „Chicago Tribune“ schreibt Kolumnen über Fensterverglasungen und Fast-Food-Restaurants; und gestern im Bus haben zwei Banker 20 Minuten über das Inland-Steel-Building gefachsimpelt.

„Chicago zu lieben ist, wie wenn man eine Frau mit gebrochener Nase liebt“, schreibt der Schriftsteller Nelson Algren. Von der „Stadt der breiten Schultern“ ist bei seinem Kollegen Carl Sandburg die Rede: Da hatten beide ein Chicago vor Augen, das es heute kaum noch gibt. Das Chicago der Viehschlachter, Eisenbahner, Weizenstapler. Doch die Stadt ist elegant geworden. Neben „Wääänderouhhh“ und seiner Zunft ist daran auch Richard M. Daley schuld, 1989 gewählter Bürgermeister.

Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die Stadtplaner bestimmt, dass von der Lakefront – dem Uferstreifen im Osten der Stadt – „kein Fuß unter Ausschluss des Volkes verplant werden solle“. Das Ergebnis: 30 Kilometer Park. Seit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts spendiert Daley der Stadt ein Juwel nach dem nächsten. Mal eine Blumenbeet-Kampagne, mal heißt es „Pflanzt Bäume!“. Hier lässt er einen Privatflughafen zum Park umpflügen, da ist es „Millennium Park“, der neue Freizeit- und Vergnügungspark im Schatten der Versicherungs- und Bankentürme.

Hin zum Fluss

„Wir haben ein paar Rettungsringe zu wenig an Board – im Ernstfall versteigern wir“, ein paar Witzchen vom Kapitän, dann legt die „Little Lady“ los: Bootstour durch die Häuserschluchten. Dicke und schlanke Gebäude säumen den Fluss; silbern blitzende und schwarz starrende; schlichte und aufgebrezelte – ein Potpourri der Charaktere. Auf den Dächern der alten Warehouses hocken wie schwarze Pilze die Wassertanks – Souvenirs aus dem Industriezeitalter. Heute drängeln sich hier Batterien von Eigentumswohnungen, mit Fahrrädern und Kugelgrills auf den Balkonen. Davor, auf den Uferpromenaden, flanieren die Menschen nach Hause.

Wie eine pikierte Dame vor dem Müllhaufen hat sich die Stadt jahrzehntelang vom Chicago River abgewandt, wo es nur es nur ging. Abwässer und Zementbarken, dafür war er gut. Doch jetzt ist Chicago dabei, seinen Fluss wieder lieb zu gewinnen. Jedem Bauinvestor am Fluss verlangen die Stadtplaner ein Stück öffentlicher Uferpromenade ab, die Industrieabwässer werden geklärt: 65 Fischarten zählen die Biologen inzwischen, auf den Brücken über dem Fluss sieht man frühmorgens gelegentlich Angler mit ihren Ruten. Vom Verzehr der gefangenen Beute raten die Behörden allerdings ab – noch.

„Pschschscht, leise sein – aus Respekt vor der Musik“, sagt der Türsteher, kassiert sechs Dollar Eintritt und wünscht ein vergnügliches Mittwochs-Konzert in der „Green Mill“. Kühn schwingt sich die Bar durch den Raum, aus muschelartigen Leuchtern fließt schummrig rotes Licht. Die kleinen grünen Kerzenleuchter auf den Tischen leuchten gerade hell genug, um das eigene Glas von dem des Nachbarn zu unterscheiden: der ideale Ort, um einen Bankraub auszuhecken. Was Al Capone und Genossen in den Prohibitionszeiten hier auch taten.

Jazz und Blues gibt die Stadt an tausend Orten ein Zuhause. In rauchigen Kellern, ranzigen Warehouses, chromierten Edelclubs. In der „Green Mill“ spielt heute das Alfonso-Ponticelli-Septett auf, junge Musiker aus der Gegend. Wie eine Katze streicht der Besen über das Trommelfell, es schnurrt der Bass, es schrummt die Gitarre, es jauchzt die Geige. Das Publikum, Alte und Junge, Einheimische und Touristen, kreischt begeistert nach den Soli und genießt dann wieder still.

Ryan aus Irland lehnt an der Theke und ordert zwei Bier. Er ist mit seiner Freundin gekommen, sie feiern heute Abschied aus Chicago. Nach sieben Jahren. „Ich hab mir ein bisschen Geld verdient, jetzt geht's zurück nach Dublin.“ Ein Prost auf die Stadt, Ryan ist ein bisschen glücklich und ein bisschen wehmütig: „Was werd ich diese Stadt vermissen! Vor allem die großen Häuser!“


Ankunft: Lufthansa und United fliegen direkt ab Frankfurt, ab 650 Euro.

Unterkunft: The Peninsula Chicago, 108 East Superior Street, Chicago, Illinois 60611, Tel. 001/312/3372888, E-Mail pch peninsula.com. DZ ab 450 Euro.

Architekturführungen: Chicago Architecture Foundation, 224 South Michigan Avenue, Chicago, Illinois 60604, Tel. 001/312/9223432.

Essen: Zest Restaurant, 525 N Michigan Ave, Tel. 001/312/3218766, Mittagsmenüs ab 15 Dollar.

Auskunft: Chicago & Illinois Fremdenverkehrsamt, c/o Wiechmann Tourism Service, Scheidswaldstr. 73, 60385 Frankfurt/M., Tel. 069/25538280, www.architecture.org, www.gochicago.com.
© Rheinischer Merkur Nr. 44, 03.11.2005